Gabriele Ludwig: Der Weihnachtsmannassistent

Vorlesen

„Eine schöne Adventszeit“, buchstabierte Emma. Sie hielt die Karte in der einen Hand und in der anderen eine Schachtel, die mit Sternen bedruckt war.
„Das lag vor unserer Wohnungstür“, sagte sie und zeigte ihrem Bruder beides.
Tom war froh, seine Hausaufgaben unterbrechen zu können. Emma war immer viel schneller damit fertig als er und lesen konnte sie mit ihren sieben Jahren auch ziemlich gut.
„Gib mal her“, sagte Tom. Er besah sich die Karte. Es war kein Absender zu sehen, aber eine Unterschrift – oder was sollte das unten Stehende sein?
„Eine schöne Adventszeit, W.“, las er vor. Ratlos sah er seine Schwester an. „Wer soll das sein, dieser W.?“
„Ist doch klar, Dummi. Das ist ein Geschenk vom Weihnachtsmann,“ sagte Emma triumphierend.
„Quatsch“, sagte Tom. Aber er verriet Emma nicht, was er als großer Bruder inzwischen über Weihnachtsmänner und ihre Gehilfen wusste.
Tom legte Schachtel und Karte auf den Tisch.
„Los, heb den Deckel ab“, forderte Emma ihn auf.
„Und wenn eine Giftschlange drin ist?“, sagte Tom und gab sich Mühe, dass ihm ein ängstlicher Gesichtsausdruck gelang.
„Ih!“, kreischte Emma und rannte aus dem Zimmer.
Solche Tricks wirkten immer. So wurde Tom seine Schwester eine kleine Weile los. Er überlegte, ob er zuerst seine Hausaufgaben beenden oder die Schachtel öffnen sollte.
Schon bald schob sich die Tür einen Spalt auf und Emma fragte ängstlich: „Hast du schon nachgeguckt?“
„Nein, hab ich nicht.“
Emma kam ins Zimmer. Sie horchte an der Schachtel. „Nichts zu hören“, sagte sie. „Wirklich?“ Tom konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.

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„Blödmann!“, schimpfte Emma. „Du hast mich reingelegt.“
„Das ist bei dir auch superleicht.“
„Macht wohl Spaß?“, erwiderte Emma schnippisch und ein bisschen beleidigt. „Warte ab, bis ich groß bin ...“ Sie sah Tom mit funkelnden Augen an.
„Was dann?“
„Dann leg ich dich rein.“
„Wenn du groß bist, bin ich auch groß. Ich bin immer zwei Jahre älter als du.“
„Oh Manno!“ Emmas Laune wurde nicht besser.
Tom nahm die Schachtel in die Hand und überlegte, was zu tun war. In einer Gruselgeschichte, die er vor ein paar Tagen gelesen hatte, war auch ein Päckchen vorgekommen. Daraus war beim Öffnen ein grauer Nebel entwichen. Ein Geist hatte sich daraus geformt. Aber das war ja nur eine Geschichte. Trotzdem zögerte er, den Deckel abzunehmen.
„Hol mal den Spaghettigreifer“, sagte er zu Emma.
„Wieso denn das?“
„Na, zur Sicherheit natürlich. Meinst du, ich hebe den Deckel ohne Sicherheitsabstand ab?“
„Ich hole den Spaghettigreifer und auch noch die lange Zange aus Papas Werkstatt“, erwiderte Emma.
„Sehr gute Idee!“

Über der Wohnung über ihnen hörten die Kinder Schritte. Und es scharrte etwas über den Fußboden.
„Hast du das auch gehört?“ Emma wurde etwas blass.
„Letztes Wochenende hörte man auch was von oben“, erwiderte Tom.

„Wirklich?“ Emma dachte nach. Dann erhellte sich ihre Miene. „Das ist bestimmt der W., der Weihnachtsmann. Der hat viel Arbeit mit den Geschenken für alle Kinder in

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der Stadt. Da muss er rechtzeitig anfangen mit Verpacken und so. Und die Schachtel hat er uns vor die Tür gelegt, damit wir ihn nicht verraten.“
Tom musste sich zusammenreißen, um nicht loszulachen. Emmas Phantasie war unglaublich und oftmals war sie davon überzeugt, dass es stimmte, was sie von sich gab.

„Morgen kommt der Weihnachtsmann“ erklang es leise.
Emma wies auf die Wohnung über ihnen. „Hörst du? Das kommt von oben. Und ich habe mal wieder recht gehabt.“
Tom nahm Zange und Spaghettigreifer und hob den Deckel der Schachtel ab. Buntstifte, Schablonen, eine kleine Dose Sprühglanz, Briefkarten und Umschläge lagen darin, dazu noch ein Merkblatt „Tipps: Weihnachtskarten selber gestalten“. Emma, die gespannt zugeschaut hatte, war ein bisschen enttäuscht.

Als die Eltern wenig später von der Arbeit heimkamen, war es auffallend ruhig in der Wohnung. Tom und Emma saßen am Küchentisch. Sie hatten schon einige sehr schöne Weihnachtskarten gestaltet.
Mutter sah ihnen eine Weile zu. „Da habt ihr ja eine sehr gute Idee gehabt. Die Karten sind so schön, dass wir sie verschicken können. Sie gefallen mir besser als die gekauften.“ Sie streichelte beiden Kindern über die Köpfe und fragte: „Wer von euch hatte denn diesen tollen Einfall?“

„Die hatte der Weihnachtsmann“, antwortete Emma. „Der hat uns nämlich die Schachtel mit den Bastelsachen vor die Tür gestellt.“ Sie zeigte die Karte, die der Schachtel beigelegt war.
Papa las sie, überlegte einen Augenblick und sagte: „Diesen Weihnachtsmann werdet ihr bald kennen lernen.“

„Wirklich? Einen echten Weihnachtsmann?“, rief Emma begeistert aus.
„Na ja, es ist eher ein Assistent des Weihnachtsmannes“, sagte Vater etwas verlegen.

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„Weihnachtsmann-Assistent! Papa! Was erzählst du uns da?“ Toms Stimme klang vorwurfsvoll.
Aus der Wohnung über ihnen war die Musik nun lauter zu hören. „Süßer die Glocken nie klingen“, ertönte. Und eine Männerstimme sang mit.

„Das ist bestimmt der Weihnachtsmann-Assistent“, erklärte Mutter und sang fröhlich mit. Dann sagte sie: „Ich glaube, bis zum Heiligabend sollten wir mal ein paar Weihnachtslieder einüben.“
„Oh ja! Weihnachtslieder sind sooooo schön“, schwärmte Emma.

„Vielleicht hat der Weihnachtsmann ja Lust, mit uns zu üben“, sagte Vater. „Mama und ich haben ihn für Sonntagnachmittag zum Adventskaffeetrinken eingeladen. Schließlich braucht der arme Mann auch mal Erholung vom Renovieren seiner neuen Wohnung.“

Einige Tage später, am Sonntagnachmittag, klingelte es an der Wohnungstür. „Willst du aufmachen?“, fragte Mutter.
Emma schüttelte den Kopf. Sie war zu aufgeregt. Wie mochte ein Weihnachtsmann- Assistent wohl aussehen?
Papa öffnete die Tür und herein kam ein ganz normaler Mann. Er trug Jeanshosen und einen Pullover und lächelte freundlich.
„Herr Winkelmann, schön, dass Sie da sind“, sagte Papa zur Begrüßung.
„Danke für das Bastelmaterial“, sagte Tom.
Zuletzt begrüßte Emma den Mann. Beim Kaffeetrinken blieb sie schweigsam und betrachtete den Mann. Einen Weihnachtsmann-Assistenten hatte sie sich anders vorgestellt. So kann man sich irren!
Das Üben der Weihnachtslieder machte allen Spaß. Papa hatte Herrn Winkelmann seine Gitarre überlassen und mit der Gitarrenbegleitung hörte sich ihr kleiner Chor sehr gut an.

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Herr Winkelmann verabschiedete sich am frühen Abend. Emma hatte sich nicht getraut, die Frage auszusprechen, die ihr die ganze Zeit im Kopf herumgeschwirrt war. Aber nun, da Herr Winkelmann gehen wollte, musste sie heraus.
„Herr Winkelmann, kann eigentlich jeder Weihnachtsmann-Assistent werden?“ Herr Winkelmann war einen Moment lang ratlos.

„Weihnachtsmann-Assistent, so wie Sie“, sagte Vater und deutete auf die mit Sternen bedruckte Schachtel.
Jetzt begriff Herr Winkelmann, was Emma gemeint hatte. „Weihnachtsmann-Assistent kann jeder werden, der anderen Menschen gerne eine Freude bereiten will. Aber die meisten Assistenten arbeiten inkognito.“ Das letzte Wort sprach er sehr bedeutungsvoll aus.

„Inkognito, also unerkannt“, sagte Tom und war ein bisschen stolz darauf, dass er dieses Fremdwort kannte.
Emmas Augen glänzten. „Dann kann ich auch irgendwann Weihnachtsmann- Assistent werden?“

„Assistentin“, sagte Herr Winkelmann. „Aber darüber können wir ein andermal sprechen.“

Weihnachtsmusik war noch an mehreren Tagen aus der oberen Wohnung zu hören. Herr Winkelmann sang oftmals mit, während er tapezierte oder Wände strich. Aber von Weihnachten an bis zum Neujahrstag war es in der oberen Wohnung still. Das änderte sich zu Anfang des neuen Jahres.

Ein Möbelwagen fuhr vor, gefolgt von einem Pkw. Emma beobachtete alles vom Fenster aus.
„Tom!“, rief sie. „Komm her! Der Umzugswagen ist gerade angekommen.“
Tom und Emma sahen, wie Herr Winkelmann aus dem Pkw stieg. Er sah die Kinder am Fenster und winkte ihnen zu. Dann stiegen zwei Jungen aus dem Auto.

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„Mensch“, freute sich Tom, „endlich mal Jungs hier im Haus, mit denen ich spielen kann.“
Emma runzelte die Stirn. Jungs? Na ja, mit denen konnte man auch spielen. Ihre Miene hellte sich auf, als sie eine Frau und ein Mädchen aussteigen sah. Das Mädchen war etwas kleiner als Emma. „Oh, sie haben noch ein Kind, ein Mädchen“, freute sich Emma.

Mutter kam hinzu. „Das ist ja fast noch schöner als die Adventsüberraschung von Herrn Winkelmann.“
„Das ist sogar noch schöner“, sagte Emma bestimmt.
„Definitiv“, bestätigte Tom, der mal wieder stolz war, ein Fremdwort passend anzuwenden. Aber Emma verkniff sich eine Bemerkung zu Toms Angeber-Sprache, wie sie es nannte.

„Ihr könnt die Kinder fragen, ob sie zu uns in die Wohnung kommen wollen“, schlug Mutter vor. „Dann lernt ihr sie gleich kenne und sie sind beim Ausräumen des Möbelwagens nicht im Wege.“
„Das ist die Idee des Tages“, sagte Tom.

Emma sagte gar nichts. Sie rannte stattdessen nach draußen zur Familie Winkelmann.

Rechtzeitig vor dem nächsten Weihnachtsfest erinnerte Emma Herrn Winkelmann daran, dass er ihr erzählen wollte, wie man Weihnachtsmann-Assistent wird. Und weil die Kinder der Winkelmanns davon auch noch nichts gehört hatten, kamen sie alle im großen Wohnzimmer der Familie Winkelmann zusammen. Weihnachtsmann-Assistent zu werden war ganz einfach, wie sich herausstellte. Man brauchte nicht mal ein Kostüm. Man brauchte nur gute Ideen, womit man jemandem in der Vorweihnachtszeit eine Freude machen konnte. Und dazu fiel jedem von ihnen etwas ein. Hast du auch eine Idee?

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