Keine Akrobatin

Vorlesen

Ihre Hände sind aus Stahl und doch so weich wie Butter. Büroklammern, Hefter, ein Band und Kleber, dieser Kleber, der auf allen Oberflächen haftet. Sie bastelt, tackert, ist kreativ wie eine Künstlerin, eine Überlebenskünstlerin. Eine Akrobatin, mit sechs Glaskugeln, die einen bunten Regenbogen zwischen den Händen bilden, balancierend auf einem Einrad. Jedoch gab ihr keiner die Zeit, um zu lernen, wie man erstmal mit zwei Kugeln jongliert. Es gibt auch keine Bühne, die sie verlassen kann, um endlich von ihrem Einrad zu steigen. Nein, sie ist keine Künstlerin und keine Akrobatin.

Sie steht in einem Wald, ein kalter Dezemberabend, da wo Schnee fällt und auch liegen bleibt. Die Bäume um sie herum scheinen so stabil zu sein, sie stehen schon ihr ganzes Leben lang so da, deshalb können sie das so gut. Sie hatten Zeit zu wachsen, zu lernen und wenn die Blätter ihnen zu schwer werden, dann lassen sie die Last von ihren Schultern fallen und tanken neue Energie, so viel wie nötig. So wie auch an diesem Abend, leicht sind die Bäume und sorgenlos. Wenn sie doch auch nur ein einziges Mal so frei sein könnte, die bunten Vögel auf ihren Händen tanzen lassen könnte...Doch der Tanz findet woanders statt und es ist ihre Aufgabe, dass dieser niemals aufhört.

Sie hat sich recht gut eingepackt, um dem beißenden Frost standzuhalten. Dicke Jacke, Mütze, aber ihre Hände sind blank und der Metalgriff ihrer sehr großen Laterne schneidet sich in ihre Haut ein. Gut, dass die Kälte den Schmerz betäubt. Auch ihre Füße sind nur leicht bedeckt, ihre Knöchel liegen frei, wo sind ihre Socken?

Wie eine Statue steht sie auf einem Fleck, ahmt die Bäume nach. Es gelingt ihr aber nicht so gut, sie steht nicht so aufrecht, ihr Kopf ist leicht nach unten geneigt und ihr Blick fällt auf den Rauch aus einem Schornstein. Ihre Fußspitzen bilden ein Dreieck in Richtung Haus, den der Rauch umtanzt. Die Augen stets achtsam und voller Hoffnung, dass der Rauch, bevor er sich auf den Weg in die Freiheit macht, die Wände des Hauses gut erwärmt und der Schein der Laterne für genügend Licht sorgt. Sie selbst kann leider nicht ins Haus, für sie ist kein Platz, sie ist zu groß, ja ein Riese im Vergleich zu den Bewohnern des Hauses. Aber es ist schon in Ordnung, denn die Wärme, die die Wände abgeben, das Gelächter und der endlose Tanz, der im Inneren stattfindet, erwärmen ihr Herz bis in alle Ewigkeiten.

Und so steht sie da, auch wenn die Nacht vorüber ist, wenn der Schnee geschmolzen ist und erleuchtet das Haus auch mitten am hellen Tage. Und die Bäume fragen sich, wann sie endlich ihr Laub abwirft, wann ihr Auftritt endlich vorbei ist, kriegen aber keine Antwort.

Sie ist eben kein Baum, auch keine Künstlerin oder Akrobatin. Sie ist eine Mutter.


Zur Website von Sabina Soloduchina

Gefällt mir
3
 

Weitere Freie Texte

lesering
Freie Texte

Raphael Walder : ARACHNOPHOBIE

Falls du grad nicht zu beschäftigt, oder gänzlich abgelenkt, möchte ich dir rasch erzählen, was mir unlängst zugestoßen, in der Hoffnung, dich mit meiner Beichte nicht zu sehr zu quälen. Selbstzufrieden und bequem ruhte ich im Schatten aus, als gewaltig, doch nicht grob, etwas meinen Leib umfasste und mich gänzlich unerwartet plötzlich in die Höhe hob. Was auch immer mich gepackt, ließ mich überraschend los, und ich landete sogleich nach nur kurzem, bangem Fallen auf einer hellen Oberfläche, die ...
Freie Texte

Richie Flow: Sommer 2018

Die Taube schwamm im Wasser des Hafenbeckens. Mit zunehmend hektisch anmutenden Flügelschlägen versuchte sie sich aus diesem ihr fremden Element zu befreien. Ohne Erfolg. Das Klatschen der Flügel auf die Wasseroberfläche verstärkte den Eindruck eines verzweifelten und hoffnungslosen Versuchs. Passanten, die an der Hafenpromenade entlang gingen, blieben stehen. Erst wenige, dann immer mehr, bis eine Gruppe von 20 oder mehr Menschen das Schauspiel betrachteten – Männer, Frauen und Kinder ...
Freie Texte

Claudia Dvoracek-Iby: Das Mädchen

„Übrigens“, Cocos Hundesitterin setzt sich unaufgefordert auf die Bank zu mir, „heute hat mir die Reinweiß eiskalt mitgeteilt, dass ich vorläufig“ - sie zeichnet Anführungszeichen in die Luft - „nicht mehr gebraucht werde. Ab morgen kommt jemand anders mit Coco hierher. Eine junge Ukrainerin. Die Reinweiß haben sie bei sich aufgenommen. Naja, Platz und Geld haben die ja mehr als genug. Aber wie sich die Reinweiß mit ihrer guten Tat brüstet - zum Kotzen ist das! Ich habe gehört, wie sie ins ...
Freie Texte

Tamás Fajta: Paris – allen Vorurteilen zum Trotz

Ja, ich war in Paris – allen Vorurteilen zum Trotz. Mit Vorurteilen meine ich das, was ich aus zweiter Hand über die französische Hauptstadt gehört habe. Jene zweite Hand gehörte Jakob Fleischberg, einem damaligen Freund von mir, der Paris samt Freundin besucht hatte. Er erzählte uns an einem Stammtisch-Donnerstag von seinen Erfahrungen. Ich breche das Gesagte kurz runter: Die Franzosen sind unhöflich und sprechen kein Englisch, die Stadt sei dreckig und der Verkehr ...
Freie Texte

Die Himmelsreisen des Träumers

Auf einer Wiese liegend betrachte ich die Gestalten des Himmels. Sie verändern dauernd ihre Formen und Farben, der Wind des Frühlings bringt sie in unbekannte Welten In meinen Träumen folge ich ihnen, dabei gelange ich an besondere Orte in meiner Erinnerung. Mein jüngeres Ich betrachte ich wohlwollend und lächle über seine Sorgen, weil sie mir heute teilweise fremd erscheinen. Zur gleichen Zeit fühle ich mich beobachtet, als ich mich umsehen will, blenden mich die Sonnenstrahlen, sie ...

Aktuelles