Wie kann man nur so wenig Empathie haben?

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Hab Mitleid mit mir, denke ich, während sich die gelben Türen wie das Gähnen einer Katze langsam zuckend öffnen und die U-Bahn ein Schwall Menschen ausspuckt. Schwunglos treten die Fahrgäste aus und ich presse meine Arme an meinen Körper, während sie sich an mir vorbeischlängeln. Endlich betrete ich den Wagon, die Sitzplätze sind alle besetzt. Ich halte mich mit der freien Hand an der Stange fest. Es ist 7:52 Uhr und um 8 Uhr habe ich mein Meeting. Die Hitze meines Kaffees kriecht sich durch den Pappbecher, durch meine Wollhandschuhe bis in meine Fingerkuppeln. Scheiß Termin. Scheiß Wecker. Scheiß Krankenwagen. Scheiß Taxi. Scheiß U-Bahn. Scheiß Kaffee. Wieso ist alles voll? Die Bahn fährt durch den Tunnel und die Fensterspiegelung meines Gesichts erscheint umrahmt von dunklem Nichts. Mich starrt ein unnatürlich blasses Gesicht an. Die dunklen, fast schwarzen Haare versinken in eine unantastbare Leere. Die rauen Bewegungen der Bahn lassen das Gesicht in winzigen Bewegungen auf und ab schwingen. Die Gestalt trägt weder meine Falten auf der Stirn noch meine Bartstoppeln am Kinn. Sie ist makellos, aber auch wesenlos. Zerbrechlich und vergänglich, wie der aufsteigende Rauch einer Zigarette. Sie lebt nur von meiner Existenz und ist dennoch weder Teil meines Körpers noch meiner Vorstellung. Wie ein verlorenes Kind. Ich starre in die durchsichtigen, konturlosen Augen, bevor das Licht des nächsten Bahnhofs durch das Fenster flutet und mein Spiegelbild auflöst. Die Bahn mischt sich neu und ich finde endlich einen leeren Platz. Eine Bierflasche rollt auf mich zu und bleib an meinem Schuh hängen. Sie speit einen Rest gelber Flüssigkeit aus, bevor sie langsam den Gang weiter rollt. Ein paar Meter nach vorne. Dann bleibt sie stehen. Ein paar Meter nach hinten. Pause. Wieder nach vorne. Wieder nach hinten. Immer der Bewegung der Bahn folgend, dennoch in die entgegengesetzte Richtung steuernd und eine klebrige Spur verteilend. Auf dem Boden und auf meinem Schuh. Scheiß Bahn. Scheiß Bierflasche. Warum ich? In meiner Langeweile lasse ich den Blick durch die Bahn gleiten und schaue nach oben auf zwei kleine Bildschirme, die an der Decke der Bahn montiert sind. Bei einem mittelalten, mittelberühmten Musiker wurde Lungenkrebs diagnostiziert. Ein Tsunami auf einer mir unbekannten Insel hat über 300 Menschen in den Tod gerissen. Während ich darauf warte, dass neue Neuigkeit auf dem Bildschirm erscheint, lege ich meine Lippen vorsichtig an den Plastikdeckel meines To-Go-Bechers und lasse den dampfenden Kaffee durch die kleine Öffnung in mein Mund gleiten. Die bittere Flüssigkeit verbrüht meine Geschmacksknospen und hinterlässt ein pelziges Gefühl auf meiner Zunge. Scheiß Kaffee. Warum wird der so kochend serviert? Und wieso ist er nicht schon längst abgekühlt?

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