Salz

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İsi Melikzade (1934-1995) İsi Melikzade (1934-1995) Prosaist und Drehbuchautor. Ausbildung als Erdölingenieur. Er war lange Zeit der Chefredakteur des Filmstudios „Azərbaycanfilm”. In seinen Romanen und Erzählungen nimmt die Darstellung der Lebensprobleme des einfachen Menschen aus dem Dorf eine wichtige Stellung ein. Aserbaidschanisches Staatliches Übersetzungszentrum

von İsi Maliksadä (İsi Melikzade)

Seymur hatte seinen Mantel angezogen und sich an die Tür gelehnt. Seine Mutter brachte den kleinen, schwarzen Koffer und stellte den Korb vor ihn hin. Der Junge beachtete das nicht. Seine Blicke schweiften zu den ausgetrockneten, mit Adern übersäten Händen seiner Mutter.

Danach sah er seine Mutter erwartungsvoll an. Firuzə hatte seine Gedanken erraten und lächelte, woraufhin sic ihre Hände in ihre Westentasche steckte. „Nimm das und gib das erst einmal aus.“ Seymur öffnete die sorgfältig gefalteten Geldscheine, er sah drei rote Zehner, was ihn nicht erfreute. Er blickte mal auf das Geld, mal zu seiner Mutter. Die Trauer über seine Abreise verflog in diesem Augenblick. Die Abschiedsworte, die er an seine Mutter richten wollte, waren wie ausgelöscht. Aus den Augenwinkeln starrte er auf die Taschen seiner Mutter. Vielleicht gibt sie doch noch mehr? Vielleicht...

Firuzə schaute weg, als ob sie die zitternden Finger ihres Sohnes nicht sehen wollte. Ihre Blicke wanderten zum Korb.

„Das Auto wartet auf der Straße auf dich.“

Seymur zerknüllte die Geldscheine in seiner Faust. „Wohin soll ich mit 30 Manat gehen?“

Firuzə wollte ihn ein bisschen ablenken, seinen Zorn besänftigen. Sie lächelte und bereute augenblicklich, weil sie verstand, dass sie durch ihr Lächeln seine Geduld überreizt hatte.

Der Junge warf das Geld auf den Tisch.

„Hätte ich gewusst, dass sowas passiert, wäre ich nicht in den Winterferien nach Hause gekommen. Die anderen schicken ihre Kinder mit allem auseestattet zum Studium.“

Die Mutter seufzte: „Mehr können wir nicht aufbringen.“

„Denkt ihr, es ist leicht, ein Student zu sein und in der Stadt sein Leben zu bestreiten?“

Seine Stimme zitterte, seine Lippen auch. Zum ersten Mal kam ihm sein Vater klein vor. Was für einen Beruf hatte er ergriffen? Was kommt dabei raus, wenn man Postbote ist? Seit 30 Jahren trägt er Briefe lur die anderen aus und seine Taschen sind leer.

Firuzə wollte nicht, dass Seymur unzufrieden das Haus verlässt. Sie wollte nicht, dass diese Abschiedsminuten wie ein Stein in ihrem Herzen wogen. Die Mutter betrachtete den Sohn mit liebevollen Augen, Er hatte abgenommen. Sein Gesicht war blass, sein Mund und seine Nase wirkten kleiner als sonst. Wahrscheinlich hat er Schwierigkeiten, isst nicht genug. Was kann er machen, weder die Mutter noch die Schwester sind bei ihm.

Die Mutter wusste, was Trennung bedeutet. Seit sechs Monaten waren all ihre Gedanken Tag und Nacht bei ihm. Auch wenn sie ein Stück Brot aß, einen Schluck Wasser trank, dachte sie an ihren Sohn: „Ach, wenn ich doch nur sehen könnte, wie mein Sohn seine Zeit verbringt!“ Während seiner Ferien saßen sie oft zusammen, aber das war nicht genug für sie. Firuzə wartete bang auf diese Trennung. Sie hatte sich geschworen, bei der Abreise nicht zu weinen, damit der Sohn ihre Trauer nicht mitbekommt.

„Wenn Ihr nicht in der Lage seid, meine Kosten zu übernehmen, dann lasst mich nicht studieren. Ich habe noch nicht das erste Studienjahr beendet. Wie wollt ihr meine Kosten noch fünf Jahre lang be-streiten?!“

Firuzə konnte nicht antworten. In ihren Gedanken beschuldigte sie stets ihren Mann. Zumindest hätte er sich vom Kind verabschieden können. Die Welt wäre nicht untergegangen, wenn er heute nicht zur Arbeit gegangen wäre.

Das Auto auf der Straße hupte. Die Mutter nahm die zerknüllten Geldscheine vom Tisch und wandte sich an Seymur:

„Nimm das doch. Sei nicht verrückt.“

„Das will ich nicht.“

„Du bekommst doch ein Stipendium.“

„Was hat das mit euch zu tun? Das reicht nicht einmal bis zum Ende des Monats. Wenn ich verhungert bin, wohin soll ich gehen? Denkt ihr, dass ich außer dem Essen keine Kosten habe?“

„Du weißt doch, wir alle leben von dem Gehalt deines Vaters. Außer dir hast du ja auch noch zwei Schwestern zu Hause.“

„Für euch bin ich kein Mensch. Wenn mir etwas zustoßen würde, wäre es euch egal.“

Das Auto hupte lang. Seymur richtete seinen Zeigefinger auf die Tür.

„So muss man ein Kind fordern. Der da draußen schickt seinen Sohn in seinem eigenen Auto zur Bahnstation, und ich bin auf ihn angewiesen. Aber mein Vater?“

Firuzə bekam Mitleid mit ihrem Mann. Sie hatte Angst, dass ihr Mann mit solch regnerischem und windigem Wetter nicht zurechtkommen würde. Sie fürchtete, dass ihr Mann krank würde und das Bett hüten müsste. Wie lange kann man zu Fuß gehen? Von ihm sind nur noch Haut und Knochen übrig.

Von der Straße ertönte wieder die Autohupe. Seymur fasste den Koffer am Griff. Die Mutter flehte: „Nimm das Geld. Wir schicken dir noch mehr. Sei doch ein wenig sparsamer, verschwende dein Geld nicht!“

„Denkt ihr, dass ich bis jetzt verschwenderisch war? Weißt du, was es bedeutet, sich Geld zu leihen? Bist du jemals in der Stadt gewesen? Sogar ein Glas Wasser kriegt man nicht umsonst.“

„Nimm, mein Kind.“

„Will ich nicht!“ Der Junge nahm nur den Korb.

Firuzə steckte die gefalteten Geldscheine in seine Manteltasche.

„Ich möchte dich von all deinen Schwierigkeiten befreien“, sagte sie. Der Junge schaute auf das blasse, kränkliche Gesicht seiner Mutter, auf die zitternden, blassen Lippen. Jedoch sah er ihre feuchten Augen nicht, fühlte nicht ihren Herzschlag. Er stürmte aus der Tür und schlug sie hinter sich zu.

Der QAZ-69* fuhr langsam los.

Seymur ignorierte die Fragen seines Mitfahrers.

“Die haben mir versprochen, dass sie mir nach dem Abitur einen teuren Anzug kaufen. Aber ich bekam nur einen für 60 Manat. Sie haben mir gesagt, wenn ich einen Studienplatz bekomme, kaufen sie mir eine goldene Uhr. Aber das haben sie auch nicht getan. Für die Uhr haben sie mir 25 Manat geschickt. Und jetzt haben sie kein Geld mehr. Es ist mir völlig egal, woher sie das Geld nehmen. Wie lange werde ich so sparsam leben können ? Mein Vater ist sogar noch nicht einmal gekommen, um sich von mir zu verabschieden. Sobald ich in Baku bin, werde ich diese 30 Manat mit der Post zürückschichen.

Das Auto kam nur mit Mühe bergauf. Da kam ihnen ein Mann entgegen, hob seine Hand, zeigte nach unten und rief etwas. Der Fahrer hielt an, öffnete die Tür und guckte heraus.

“Seymur, ich glaube, deine Mutter kommt hinter uns hergelaufen.”

“Was ist denn los ? Was will sie bloß?” Seymur stieg aus dem Auto. Um seine neuen braunen Schuhen nicht mit dem Schlamm der aufgeüeichten Erde zu beschmutzen, ging er auf Zehenspitzen. Er sah seine Mutter mit ihrem schwarzen Schal den Weg hinaufkommen. Stolpernd nahm sie eine Abkürzung, ihre rechte Hand stets über dem Kopf erhoben.

Der Regen war dabei, den Jungen völlig zu durchnässen. So stieg er wieder ins Auto. “Wenn sie das Geld bringt, soll sie ruhig!”

“Vielleicht sollten wir ihr ein Stück entgegenfahren ?”, sagte sein Mitfahrer.

“Sie ist schon da.” Seymur trocknete sein Gesicht und seinen Hals mit dem Taschentuch und säuberte seine Mütze.

Firuzə erreichte erschöpft das Auto. Sie war ganz blass. Beim Ein- und Ausatmen bewegte sich ihr ganzer Körper. Da ihr Mund ausgetrocknet war, musste sie oft schlucken. Seymur schaute auf seine Mutter, die große Augen machte.

“Was ist los?”

Sie reichte Seymur ein kleines gefalztes Papier. Der Junge nahm es in die Hand und befühlte es.

Noch völlig außer Atem stieß Firuzə hervor:

“İch hab dir in den Korb Hähnchen und Eier gelegt. Aber das Salz habe ich vergessen. Lege es so, dass es nicht nass wird!”

Seymur blickte von oben herab auf die Nase seiner Mutter, die mit offenem Mund atmete.

Von ihr abgewendet sagte er: “Die machen mich fertig. Für die bin ich kein Mensch.”

Er war das gefaltete Papier auf den Boden und schlug die Tür laut zu. Das Auto fuhr los. Von den fahrenden Rädern spritze der Schlamm und bedeckte das feine weiße Salz, das sich über den Boden verteilt hatte.

*Russischer Geländewagen, der zwischen 1953 und 1972 produziert wurde.

İsi Maliksadä , ein prominenter aserbaidschanischer Schriftsteller und Dramaturg, hat in der Zeit der Sowjetunion mit seinen Werken bedeutende Beiträge zur aserbaidschanischen Literatur geleistet. Sein Schreibstil, der oft als romantisch beschrieben wird, hebt ihn von seinen Zeitgenossen ab und macht ihn zu einem unvergesslichen Autor in der aserbaidschanischen Prosa. Seine Werke repräsentieren eine breite Palette von Themen und Stilen, die İsi Maliksadäs Fähigkeit unterstreichen, tiefe emotionale und philosophische Fragen durch seine Literatur zu erforschen.

Diesen Text stellte uns das Aserbaidschanisches Staatliches Übersetzungszentrum zur Verfügung.

Das Zentrum arbeitet seit mehr als 30 Jahren daran, die Weltliteratur in Aserbaidschan und die aserbaidschanische Literatur in der Welt zu fördern. Jedes Jahr werden die Werke der aserbaidschanischen Autoren in verschiedenen Länder der Welt veröffentlicht.

Das Engagement des Zentrums für die Übersetzung und Verbreitung von Literatur verdient Anerkennung und Unterstützung, da es wesentlich zur Bereicherung des kulturellen Lebens und zum besseren Verständnis zwischen den Völkern beiträgt.

Die Veröffentlichung aserbaidschanischer Literatur in deutscher Sprache hat in den letzten Jahren zugenommen, was das Interesse an der reichen Kultur und Geschichte Aserbaidschans widerspiegelt.

"Leili und Madschnun" wird in Frankfurt präsentiert | Aserbaidschanisches Staatliches Übersetzungszentrum (aztc.gov.az)






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