Buchtipp Heinz Strunk: Der Goldene Handschuh Jenseits der Ekelgrenze

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Heinz Strunk hat sich mit Fritz Honka einen der bekanntesten deutschen Serienmörder als Horror-Helden herausgesucht. Das Buch erweist sich als brillante Milieustudie, die nichts für schwache Nerven ist.

Foto: rororo

Fritz Honka, der lange Jahre inhaftierte und 1998 unter falscher Identität in Freiheit verstorbene Hamburger Serienmörder, brachte in den 70er Jahren vier Frauen um und zerstückelte sie. Damals war dies das beherrschende Thema in der Boulevard-Presse, der Fall wurde überregional zur Schlagzeile. Heinz Strunk hatte Einblick in die Polizeiakten erhalten, aber mit "Der Goldene Handschuh" aus dem Fall nicht etwa einen Kriminalroman, sondern eine Hamburger Milieustudie erschaffen, wie man sie lange suchen wird.

Nur: Die fällt für die Hansestadt der 70er nicht gerade einladend aus. Fritz Honka, genannt Fiete, strandet in St. Pauli und macht die Absturzkneipe "Zum goldenen Handschuh" zu seinem Stammlokal. Dort wird "Vernichtungstrinken" betrieben: Alkoholiker, Prostituierte, heruntergekommene Zuhälter und das Strandgut der Nacht wird allesamt am selben Tresen angeschwemmt.

Strandgut im goldenen Handschuh

Da wäre Lutz, der Hartgeld-Lude, der auf einen Aufstieg im Zuhälter-Gewerbe hofft. Oder Soldaten-Norbert, der den Kriegswirren entkommen ist und jeden Tresengast unter Androhung von Gewalt zwingt, seinen brutalen Kriegserzählungen zu lauschen. Und da ist Leiche, der so lange vollkommen regungslos am Tresen verharrt, dass man unschlüssig ist, ob er noch lebt. Trotz dieses Publikums wird die Kaschemme auch von Frauen frequentiert, oder was von ihnen übrig geblieben ist. Mit unbewegter Sachlichkeit schildert Heinz Strunk schlaff auseinander hängende Brüste, die von einer wochenlang nicht gewaschenen Kittelschürze zusammen gepresst werden, oder von zahnlosen Schädeln mit kahlen Stellen am wirren Haarschopf.

Für Fiete ist der goldene Handschuh Jagdrevier. Seine Beute: Verwahrloste Untote, die Fiete mal für 10 D-Mark, mal für ein paar FaKo (=Fanta-Korn, Verhältnis 1:1) oder Verblendungsschnäpse (zwei Korn auf einmal) in seine Wohnung abschleppt.

Fiete selbst kommt aus zerütteten Verhältnissen: Aus der Ostzone geflohen, schmächtig, und durch einen Unfall entstellt, sehnt er sich insgeheim nach der Liebe jüngerer Frauen. Die weisen ihn jedoch ab und schüren seine Dominanz- und Gewaltphantasien immer weiter.

Verwahrlosung geht auch in der Villa

Parallel dazu beobachtet Heinz Strunk das Treiben einer Reeder-Familie an der Elbchausse. In kurzen Zwischenschnitten erlebt man, dass sich in den gut situierten Kreisen der Hansestadt ganz ähnliche Abgründe mit Alkoholexzessen und Sex auftun. So verdrückt sich das Familienoberhaupt nach dem legendären Eisbeinessen der Hamburger Reeder ausgerechnet in "Zum goldenen Handschuh", um sich dort unerkannt besinnungslos trinken zu können.

Das bleibt aber auch der einzige Berührungspunkt zwischen den Sphären - Heinz Strunk nutzt diesen Seitenblick als nur als Spiegel, Fritz Honka alias Fiete ist sein tieftrauriger Held. Dessen letzte Hoffnung ist ein fester Job bei Shell als Nachtwächter in der City Nord, und er versucht, Freizeitbeschäftigungen außerhalb des goldenen Handschuhs nachzugehen. Doch selbst Hafenrundfahrt und Hagenbeck-Besuch scheitern letztlich am Dämon Alkohol oder bei einem Umtrunk mit Kollegen in einer versuchten Vergewaltigung. Honka findet sich bald in der Absturzkneipe wieder und trudelt unweigerlich seinem Ende zu.

Fazit: Heinz Strunk liefert mit "Der Goldene Handschuh" eine derart eindringliche Milieustudie, dass man fast glaubt, die Ausdünstungen lange nicht gewaschener Körper riechen zu können. Dabei werden die eigentlichen Morde sogar nur gestreift, als seien sie eine Zwangsläufigkeit des Absturzes von Fritz Honka. Bereits zu Beginn des Buches hat Honka gemordet, doch Heinz Strunk deutet die Tat nur an. So bemerkt dîe obdachlose Greisin, die Honka sich als Sklavin hält, den intensiven Verwesungsgeruch. Trotz ungeheurer Vorräte an Duftbäumchen in der Wohnung glaubt sie an eine zufällig verrottende Ratte.

Der Autor steigert Abscheu und Entsetzen mit der fast empathielos erscheinenden Schilderung des Elends am Rande der Gesellschaft immer weiter. Heinz Strunk spiegelt in seinen dramaturgisch aufgebauten Dialogen das von Verrohung geprägte Hafenarbeiter-Hamburgensisch vortrefflich wieder. Da hat jede Hauptfigur ihren eigenen Duktus und unterbietet sich nur noch in der Verwahrlosung selbst der Sprache. Dieses facettenreiche Gossengemälde ist in wenigen Sitzungen ausgezeichnet lesbar, gleichzeitig aber inhaltlich schwerste Kost. Fans von Charles Bukowski werden begeistert sein, und Strunk wird alleine durch sein Sprachgenie auch viele Genre-Fremde begeistern. Das Buch steht trotz einiger wichtiger anderer Neuerscheinungen auf Platz 2 der Belletristik-Charts von Amazon.de.

Anmerkung zum Hörbuch: Heinz Strunk liest selbst - und das ist gut. Der Autor selbst gibt den schon in Schriftform lebendigen Dialogen noch mehr Unverwechselbarkeit.

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